„Mein Team ist total langsam geworden. Beinahe hätten wir dadurch sogar unseren langjährigen guten Kunden verloren.“
Ben ist Scrum Master und bei einem Kaffee in der Kantine schüttet er Nina, ebenfalls Scrum Masterin in dem Unternehmen, sein Herz aus:
„Für jede einzelne Funktion der Software müssen sie minutiös dokumentieren, wie lange sie daran gearbeitet haben. Das bremst sie total aus.“
„Und warum änderst du das dann nicht?“ fragt Nina. „Wäre das nicht dein Job als Scrum Master?“
Ben druckst ein bisschen rum: „Na ja, dieses Stunden-Tracking ist, genauso wie ein genaues Einhalten der Arbeitszeiten, Vorgabe meines Chefs. Er braucht es wohl für seine Budgets…. Ich fürchte, daran ist nicht zu rütteln.“
„Umso wichtiger ist es, dass du daran rüttelst. Dein Chef muss zumindest erfahren, dass seine Vorgabe das Team ineffektiv macht.“
Gefangen in alten Strukturen
Was unterscheidet Ben von Nina? Beide sind zertifizierte Scrum Master. Beide fühlen sich verpflichtet, ihren Teams bestmögliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Beide wissen, was sie dafür tun müssen.
Ben ist in und mit diesem Unternehmen groß geworden und hat seine Kompetenzen in dieser Zeit ausgebaut. Das Unternehmen hat ihm die Ausbildung zum Scrum Master ermöglicht. Er ist beliebt — sowohl beim Team als auch in der Führungsetage. Aber er hat auch die Strukturen, die Abhängigkeiten, die internen Gewohnheiten und Glaubenssätze des Unternehmens auch verinnerlicht. Diese in Frage zu stellen, vielleicht unbequem zu werden, das traut er sich nicht recht. Vielleicht hat er auch ein bisschen Angst um seinen guten Arbeitsplatz.
Nina dagegen ist eine Externe. Sie hat schon für viele Unternehmen gearbeitet, schon viele Teams begleitet – auch solche Unternehmen, die schon deutlich weiter in ihrer Umsetzung von Agilität waren. Und sie ist seit einigen Jahren selbstständig.
„Aber ist das Ziel eures Unternehmens“, fragt sie Ben jetzt, „ist nicht der Schritt in agiles Arbeiten? Jeder, der etwas von Wertschöpfung versteht, weiß doch, dass kleinteiliges Stunden-Tracking kontraproduktiv ist und so das persönliche Potenzial der Mitarbeiter nicht wirksam werden kann!“
„Ich vergleiche meine Position immer mit der eines Hofnarren,“ erklärt Nina weiter. „Als Hofnarr hast du eine Sonderrolle in dem System. Du bist losgelöst von hierarchischen Strukturen, du stehst außerhalb. Aus dieser Position heraus kannst und darfst du auf die blinden Flecke aufmerksam machen. Du Hofnarr darfst und sollst aktiv auf den König, die Führungskraft, zugehen und deine Beobachtungen teilen. Eigentlich müssten alle Scrum Master diese Freiheit haben.“
Qualitäten eines Scrum Masters
Was die beiden nicht wissen: Am Nebentisch sitzt Theo, eine andere Führungskraft des Unternehmens, und hat ihr Gespräch zufällig mitbekommen. Und Theo kommt ins Grübeln.
Er ist selbst für drei Teams verantwortlich, für die er jeweils auch Scrum Master eingestellt hat. Und er fragt sich: Nach welchen Kriterien habe ich selbst eigentlich meine Scrum Master ausgesucht? Danach, dass sie mich komplett in Ruhe lassen, dass sie immer tun, was ich sage – oder danach, dass sie mir Impulse geben und neue Perspektiven aufzeigen? Danach, dass sie mir nach dem Mund reden – oder danach, dass sie mir sagen, was ich wissen muss? Danach, dass sie meine Vorgaben umsetzen und mir den Rücken freihalten – oder danach, dass sie dem Team helfen, wertschöpfender zu werden und somit die Leistung des Unternehmens verbessern?
`Habe ich mir Untergebene oder Hofnarren ausgesucht?´ Und auf dem Weg zurück ins Büro reflektiert er sich kritisch, darauf vorbereitet, auf unbequeme Wahrheiten zu stoßen.
Mut zur Narrenfreiheit
Wie Theo sollten auch Sie überlegen und sich hinterfragen: Wen haben Sie in Ihrem Team? Gibt es einen „Hofnarr“, der seiner Rolle gerecht wird und Ihnen die Perspektive von außen auf unternehmensinterne Aspekte spiegelt? Einen mutigen Scrum Master, der Ihnen beim Wachsen hilft? Oder wird Ihr Hofnarr von der Unternehmensstruktur in seiner Funktion ausgebremst?
Viele Unternehmen haben Angst, sich externe Scrum Master ins Haus zu holen und ihnen damit Zugang zu Unternehmensinterna zu verschaffen. Interne kennen das Unternehmen, die Abläufe, sie sind Vertrauenspersonen. Das ist gut – und gleichzeitig problematisch.
Ich kann Ihnen nur raten, trauen Sie sich und schaffen Sie Raum für Reflexion: Arbeiten Sie auch mit externen, unabhängigen Scrum Mastern und gewähren Sie ihnen die Rolle von Hofnarren! So wird Ihr Unternehmen langfristig beweglich.
Ihre Carolin Salamon